Das dynamische Wachstum der Industrie lockte alljährlich Tausende Arbeitssuchende in den Zlíner Ballungsraum. Viele von ihnen haben sich dort für immer niedergelassen. Vollgültige Bürger der Stadt wurden sie jedoch erst nachdem ihnen von der Stadtvertretung die Heimatsangehörigkeit anerkannt wurde. Aus der Aufnahme in den Gemeindebund ergaben sich mehrere Vorteile. Vollgültige Bürger konnten sich in der Gemeinde ungestört aufhalten und in einem Notfall Armenhilfe beantragen. Durch Erlangung des Wahlrechts hatten sie gleichzeitig Gelegenheit, das Geschehen in der Gemeinde zu beeinflussen; das Recht gemeinsam über Alltagsangelegenheiten zu entscheiden hat sie symbolisch (aber auch rein praktisch) mit der ganzen Gemeinschaft verbunden.
Laut Gesetz musste sich die Selbstverwaltung nach einem ständigen zehnjärigen Aufenthalt des Antragstellers zu den eingereichten Anträgen über die Aufnahme in den Gemeindebund äußern. Wenn es sich dabei um profitträchtige Unternehmer, gut bezahlte Manager oder qualifizierte Arbeitskräfte mit stabilen Einkommen handelte, hat die Stadtvertretung ihren Anträgen auch lange vor Ablauf dieser Frist entsprochen. Umgekehrt wurden Anträge in einer Situation abgelehnt, wenn die materielle Absicherung der Antragstellerinnen und Antragsteller Befürchtungen über ihre künftige Insolvenz weckte.
Ende der dreißiger Jahre war die Agenda des Heimatrechts der umfangreichste Punkt in den regelmäßigen Sitzungen der Zlíner Stadtvertretung. Auf jeder Versammlung wurde über Dutzende von Fällen abgestimmt, und entschieden wurde gemäß einem vom Stadtrat jeweils im voraus eingenommenen Standpunkt. Neu war die Anerkennung der Zlíner Heimatsangehörigkeit bei tschechischen Flüchtlingen aus dem annektierten Sudetenland auf Grundlage eines Bescheids des Bezirksamtes in Zlín.
Její záležitost představovala pravděpodobně historicky jediný případ, kdy členové zastupitelstva (složeného z velké části z kandidátů hájících baťovský program), jednali proti vlastní městské radě a svému odboru.
Im Juni 1939 behandelte die Stadtvertretung auch den Antrag der Witwe Kamila Ornsteinová. Ihr Fall war wahrscheinlich der einzige in der Geschichte, bei dem die Mitglieder der (sich größtenteils aus das Baťa-Programm verteidigenden Kandidaten zusammensetzenden) Stadtvertretung gegen ihren eigenen Stadtrat und ihre Abteilung handelte. Gleichzeitig war es wahrscheinlich auch der einzige Fall während der gesamten NS-Besatzungszeit, in dem die Mitglieder der Vertretung nicht einstimmig abstimmten. Interessant ist neben der Begründung der Vertretung auch die Höhe der geforderten Gebühr, die von den damaligen Gepflogenheiten völlig abweicht (die Gebühren betrugen üblicherweise zwischen einigen zehn und fünfhundert Kronen):
„Kamila Ornsteinová, Hausfrau, aus Mukačev, Witwe.
Die Heimatrechtsabteilung und der Stadtrat schlagent vor, den Antrag abzulehnen.
Die Stadtvertretung beschließt jedoch mit großer Stimmenmehrheit der Anwesenden, der Antragstellerin ein freiwilliges Heimatrecht gegen eine Gebühr von 1.500,– Kronen zu erteilen, und zwar deshalb, weil sie ohne Belege über ihre Angehörigkeit keine Pension beantragen kann, ebensowenig kann sie die Auszahlung der Lebensversicherungen bei der Versicherung beantragen und die übrigen Nachlassangelegenheiten regeln.
Laut Mitteilung des rechtlichen Vertreters ist es dann möglich, dass sie gemäß Bescheid des Bezirksamtes Zlín durch das Heimatrecht zugewiesen würde, da sie am 10. Oktober 1938 in Zlín wohnte und ihre ehemalige Gemeinde, zu der sie ihren Eltern nach gehörte, Horky-Kamenná, im annektierten Gebiet liegt, sodass über ihre Heimatangehörigkeit amtlich entschieden werden müsste. Die Antragstellerin wurde am 12. 2. 1892 in Hostoň, Bez. Unhošť, geboren.“
Um den Grund zu verstehen, für den Kamila Ornsteinová auf diese ungewöhnliche Weise in die Geschichte Zlíns einging, müssen wir uns ihr bisheriges Leben vorstellen und besonders die Ereignisse beleuchten, die der Abstimmung der Stadtvertretung vorausgingen. Kamila Ornsteinová wurde am 12. Februar 1892 in die Lehrerfamilie von Hynek und Hana Lederer geboren. Das relativ stabile soziale Umfeld hat sich auch in das zukünftige Leben ihrer drei Geschwister niedergeschlagen. Bruder Otte wurde Geschäftsmann, Schwester Irma heiratete den Miteigentümer der Prager Firma Prima und die zweite Schwester Hedvik nahm einen Polsterer, den Eigentümer eines Wohnhauses zum Mann.
Kamila Lederova heiratete im Oktober 1925 Desider Ornstein, seinerzeit ein Student der medizinischen Fakultät der Deutschen Universität in Prag. Ihr zwei Jahre jüngerer Partner und künftiger Zahnarzt stammte aus Mukačev, wo sein Vater Ludwig bei der Steuerbehörde die Funktion eines Vorstehers (leitenden Angestellten) bekleidete. Im Mukačever Krankenhaus lernte er während eines Studentenpraktikums den damaligen Krankenhausdirektor Bohuslav Albert kennen, der später auch Direktor im Zlíner Krankenhaus wurde. Die Verbindung zu dem Chefarzt Albert war möglicherweise das Motiv, dass die Ornsteins später nach Ostmähren weggingen. Bevor die Eheleute Kamila und Desiderius Ornstein mit ihren zwei kleinen Kindern Eva (1927) und Petr (1933) im Jahr 1935 nach Zlín zogen, durchlief Dr. Ornstein mehrere Zahnkliniken in Prag, Blatná, Louny und in Veselí nad Lužnicí.
In Zlín wurde Desiderius Ornstein am 2. Mai 1935 in der sog. Zahnabteilung (Stomatologie) eingestellt. Für kurze Zeit wohnte er in einem ihm zugewiesenen Zimmer im Hotel Gemeinschaftshaus. Noch im Sommer desselben Jahres wurde der Familie eine Firmenwohnung in der Straße Kotěrova Nr. 1670 zugeteilt. Auf Ersuchen von Dr. Ornstein ließ sich die vierköpfige Familie schließlich im Stadtviertel Letná in der Straße Lipová Nr. 1647 in einem ihnen besser passenden (1931 fertiggestellten) Standarddoppelhaus Typ 1928 nieder. Die moderne Dreizimmerwohnung mit Küche, Bad und Garten war damals in Zlín für qualifizierte Beschäftigte des Baťa-Konzerns Standard.
Im Leben der jüdischen Familie Ornstein begannen sich Ende der dreißiger Jahre die ergriffenen antijüdischen Maßnahmen niederzuschlagen. Ähnlich wie die übrigen jüdischen Ärzte fingen die Ornsteins an, sich auf einen Weggang ins sicherere Ausland vorzubereiten, worauf die vom Bezirksamt in Zlín am 27. Januar 1939 ausgestellten Pässe mit der Erlaubnis, auch in außereuropäische Länder auszureisen, hindeutet. Der Familie ist es jedoch nicht gelungen das Land zu verlassen, darüberhinaus erwartete nach der Okkupation der restlichen böhmischen Länder durch die NS-Armee jüdische Ärztinnen und Ärzten die Entlassung aus den Diensten öffentlicher Krankenhauseinrichtungen.
Dr. Ornstein sah die Situation seiner Familie als ausweglos an und entschied sich für eine radikale Lösung. Am 22. März 1939 schnitt er in der Wohnung seinen beiden Kindern die Kehle durch und griff auch seine Frau Kamila an, die gerade vom Einkauf zurückkehrte. Es gelang ihr, den Angriff abzuwehren. Danach flüchtete Dr. Ornstein in das nahe Hotel Gemeinschaftshaus, von dessen zehntem Stockwerk er sich in die Tiefe stürzte. Selbstmordversuche der jüdischen Bevölkerung wurden in den Märztagen des Jahres 1939 zu einer traurigen Realität. Nur einen Tag später hat sich die 56 Jahre alte Antonie Auerbachová aus Olmütz mit ihrem Mann im Hotel Gemeinschaftshaus einquartiert und sich dort aus Angst vor ihrer Zukunft erhängt.
Die vollgültige Zlíner Bürgerin und Witwe Kamila Ornsteinová ist nicht lange in der Baťa-Metropole geblieben. Noch im Jahr 1939 zog sie mit ihrem Bruder Otto in die Straße Kostkova im Prager Stadtteil Žižkov. Eine kleine Spur ihres Prager Aufenthalts ist ein erhaltenes Strafverfahren, in dem sie von der Prager Polizei ab November 1941 wegen teilweiser Verdeckung des verpflichtenden Tragens des Judensterns in der Öffentlichkeit belangt wurde. Aus ihrer nachträglichen Berufung geht unter anderem hervor, dass sie damals eine ernste Operation vor sich hatte, darüberhinaus litt sie an Erkrankungen der Nieren, Lungen und des Herzes. Der Gesundheitszustand ließ ihr somit keine Chance, die Bedingungen zu überleben, die der Sicherheitsapparat der Nazis für Personen jüdischer Abstammung vorbereitet hatte. Im Rahmen der sog. Endlösung der jüdischen Frage wurde Kamila Ornstein im Juni 1942 von Prag gewaltsam in den Osten deportiert; Zielstation ihres Transports mit der Bezeichnung Aah wurde das polnische Ghetto Ujazdów, wo sie wahrscheinlich ermordet wurde.
MM
Kamila Ornsteinová
Datum und Ort der Geburt: 12. 2. 1892, Hostouň
Geburtsname: Ledererová
Vorübergehender Wohnsitz: Praha XI, Kostkova 5
Ständiger Wohnsitz: Lipová 1647, Zlín
Ankunftsdatum in Zlín: Sommer 1935
Ausgeübte Arbeit: Hausfrau
MUDr. Desider Ornstein
Datum und Ort der Geburt: 28. 11. 1894, Mukačevo
Vorübergehender Wohnsitz: Lipová 1647, Zlín
Ständiger Wohnsitz: Mukačevo
Ankunftsdatum in Zlín: 2. 5. 1935
Ausgeübte Arbeit: Arzt in der stomatologischen Abteilung
Sterbedatum: 22. 3. 1939
Eva Ornsteinová
Datum und Ort der Geburt: 21. 1. 1927, Praha-Smíchov
Vorübergehender Wohnsitz: Lipová 1647, Zlín
Ständiger Wohnsitz: Mukačevo
Ankunftsdatum in Zlín: Sommer 1935
Ausgeübte Arbeit: Schülerin
Sterbedatum: 22. 3. 1939
Petr Ornstein
Datum und Ort der Geburt: 8. 8. 1933
Vorübergehender Wohnsitz: Lipová 1647, Zlín
Ständiger Wohnsitz: Mukačevo
Ankunftsdatum in Zlín: Sommer 1935
Ausgeübte Arbeit: Kind im Haushalt
Sterbedatum: 22. 3. 1939
Quellen und Literatur:
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Mährisches Landesarchiv in Brno, Staatl. Bezirksarchiv Zlín, Bestand Baťa, a. s., Zlín, Sign. II/2, Kart. 1030, Inv.-Nr. 16, Acquisitionsnr. 33, Beschäftigtenkarte: MUDr. Ornstein Desider.
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Mährisches Landesarchiv in Brno, Staatl. Bezirksarchiv Zlín, Bestand Bezirksamt Zlín I., Buch 19, Passevidenz, Nr. 327/1939 und Nr. 328/1939.
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Mährisches Landesarchiv in Brno, Staatl. Bezirksarchiv Zlín, Bestand Bezirksamt Zlín I., Kart. 716, Inv.-Nr. 1053.
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Mährisches Landesarchiv in Brno, Staatl. Bezirksarchiv Zlín, Bestand Archiv der Stadt Zlín, Inv.-Nr. 138, Versammlungsprotokoll der Stadtvertretung, 2. 6. 1939.
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Arolsen Archives, 1 Incarceration Documents / 1.1 Camps and Ghettos / 1.1.42 Theresienstadt Ghetto / Signatur 11422001, Dokumentnr. 177414 – Häftlingskarte des Ghettos Theresienstadt (aufgerufen am 31. 10. 2023: https://collections.arolsen-archives.org/en/search/person/5109323?s=5109323&t=2547173&p=0 ).
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